Wie sind die Arbeitsbedingungen im Bundesland Tirol, in Südtirol und im Trentino? Dieser Frage geht die Euregio-Studie zu den Arbeitsbedingungen nach. Ganz nach dem europäischen Vorbild der alle fünf Jahre europaweit stattfindenden Erhebung der Arbeitsbedingungen von Eurofound (EWCS) haben die Euregio und ihre Partnerinstitute Arbeiterkammer Tirol, AFI | Arbeitsförderungsinstitut Südtirol und Agenzia del lavoro im Trentino 2022 eine umfassende Befragung mit 4.500 Interviews (1.500 pro Landesteil) durchgeführt. Auf der heutigen Pressekonferenz, die nach dem Rotationsprinzip in Innsbruck stattfand, wurden die Ergebnisse zum sozialen Umgang am Arbeitsplatz vorgestellt.
Chef, Mitarbeiter und Arbeitskollegen helfen sich überall gegenseitig
Überall in der Europaregion lautet die Devise: Am Arbeitsplatz hilft man sich gegenseitig. Gemessen auf einer Skala von 0 (schlecht) bis 100 (ausgezeichnet) sorgt dies bei einem Punktwert von 76 (der EU-Durchschnitt ist 77) für ein solides Ergebnis und gilt für alle Branchen gleichermaßen. Unter den Berufsgruppen stechen die Handwerker hervor, die sich am meisten gegenseitig unterstützen (78 Punkte). Bediener von Anlagen und Maschinen sowie Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft hinken mit 73 Punkten hingegen nach. Erfreulich: Männer und Frauen helfen sich gleich oft, genauso wie sämtliche Beschäftigte ungeachtet der Bildungsabschlüsse. Eine Rolle spielt hingegen das Alter: Beschäftigte unter 35 fühlen sich deutlich häufiger unterstützt als Beschäftigte über 50. Das kann strukturelle Gründe haben; Ältere sind häufiger (einsame) Führungskräfte- oder werden zum alten Eisen gezählt. Eine wohlwollende Interpretation wäre, dass ältere Arbeitskräfte weniger Hilfe benötigen, weil sie alle Kniffe ihres Berufs schon kennen.
Diskriminierung: Südlich des Brenners hui, nördlich davon pfui?
Unter Benachteiligung werden sozial schädliche Verhaltensweisen wie Beleidigungen, Bedrohungen, unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche bis hin zu Mobbing und Gewalt verstanden. Ausgehen können diese von Vorgesetzten oder Arbeitskollegen, aber auch von den „Endnutzern“, spricht Kunden, Schülern, Patienten. Insgesamt liegt die Europaregion mit knapp einem Betroffenen auf zehn Beschäftigte (9%) fast gleichauf mit dem EU-Durchschnitt von 10% (gleichzeitig auch der Wert Österreichs und Italiens). Innerhalb der Euregio sticht das Nord- und Osttirol mit einem Wert von 15% negativ heraus. „Grundsätzlich kann es schon sein, dass es im Bundesland Tirol am Arbeitsplatz wirklich ruppiger zugeht als südlich des Brenners, oder aber- und das wäre positiv zu werten- es besteht mehr Bewusstsein, dass ein bestimmtes Verhalten nicht ok ist“, erklärt AFI-Forscher und Arbeitspsychologe Tobias Hölbling, der die Daten eingehend analysiert hat. Frauen berichten übrigens überall in der Europaregion davon, häufiger (11%) als Männer (9%) mit aggressivem Verhalten am Arbeitsplatz konfrontiert zu werden- wiederum gibt es innerhalb der Europaregion ein deutliches Nord-Süd-Gefälle zu Ungunsten des Bundeslandes Tirol.
Was hinter den Unterschieden steht
Kann es wirklich sein, dass es im Bundesland Tirol schlechter um den sozialen Umgang am Arbeitsplatz bestellt ist als in den beiden anderen Landesteilen der Euregio? Zu den Ergebnissen gibt es mehrere Hypothesen: Die erste ist, dass es tatsächliche reale Unterschiede bei den sozialen Verhaltensweisen gibt. Demzufolge würden in der Nord- und Osttiroler Arbeitswelt allgemein ruppigere Sitten und ein rauerer Umgangston herrschen als in Südtirol oder dem Trentino, was sich entsprechend auf die Bewertung niederschlagen würde. Die zweite Hypothese ist, dass die Beschäftigten in Tirol sensibler für das Thema sind und daher Beleidigungen und Belästigungen verschiedener Art als wesentlich nennenswertes Problem wahrnehmen und solche Episoden häufiger melden.
Kann sich ein Unternehmen Diskriminierungen überhaupt leisten?
Fruchtbringender als die Frage nach der Ursache von Bewertungsmustern ist die Frage, ob sich Unternehmen oder Organisationen benachteiligendes Verhalten unter ihren Mitarbeitern bzw. von Seiten der Chefetage überhaupt leisten können. „Kommen in der Belegschaft diskriminierende Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum vor, wirkt sich das negativ auf die Leistung des Unternehmens oder der Organisation aus“, sagt Tobias Hölbling und ergänzt. „Das wird dann verständlich, wenn man bedenkt, dass betroffene Mitarbeiter psychische Ressourcen wie Aufmerksamkeit oder Konzentration, die eigentlich zur Aufgabenbewältigung im Sinne des Unternehmens eingesetzt werden sollten, für Emotionsregulation aufwenden müssen.“ Die Folge: Die Leistungsfähigkeit und -willigkeit wird geringer, Krankenstände werden häufiger und der Arbeitsplatzwechsel wahrscheinlicher – die alles ist mit Kosten für den Betrieb verbunden.
Quelle: AFIIPL